Der Fall der Geschwister Schindler
Diese Aufnahme des Zwickauer Fotografen Oswald Graf entstand wohl im Herbst 1893 oder auch etwas später. Die rückseitige Beschriftung lautet: „Schindler, Karline und ihr Bruder Lockennischel“.
Um 1900 wurde das Motiv von den Gebrüdern Richter in Dresden in mehreren Auflagen als Ansichtspostkarte herausgegeben. Der kolorierte Lichtdruck trägt den Titel „Heim der Geschwister Schindler“.
Das abgebildete Häuschen mit der Brandkataster-Nr. 590 ist „An den Bergkellern 1“ zu verorten, am linken Bildrand ist die Vereins-Brauerei und am rechten „Jacobs Bierkeller“ zu erkennen (in der Karte ist irritierender Weise die Scheune mit 590 bezeichnet, das Wohnhaus ist das sehr viel kleinere, unterhalb liegende Gebäude).
Christiane Caroline Schindler und ihr Bruder Wilhelm Eduard bewirtschaften das ererbte Grundstück gemeinsam, sie halten Schweine, Kühe, Gänse, Enten und Hühner. 1887 unterzeichnen die Geschwister einen mit Bauunternehmer Friedrich Pietzsch geschlossenen Vertrag über nötige Reparaturen an ihrer Scheune; Eduard, im Adressbuch unter der Berufsbezeichnung „Handarbeiter“ geführt, fällt das Schreiben seines Namens sichtlich schwer. Die Trinkwasserversorgung sichert der vor dem Anwesen stehende Hydrant. Der auf baugesetzliche Anordnung hin errichtete Plankenzaun vermag zwar Abtritt und Düngerhaufen gegen die Blicke der Passanten abzuschirmen, doch die Geruchsbelästigung, namentlich bei warmer Witterung, bleibt, nicht nur Restaurantbesuchern, ein Ärgernis und die Klagen reißen nicht ab. Schließlich werden die Geschwister im Sommer 1893 auf Verfügung vorübergehend im Siechhaus untergebracht und ihr Haus und Grundstück aus „gesundheitspolizeilichem Interesse“ gereinigt und saniert, eine Abortanlage mit Klärgrube errichtet sowie eine gemauerte Einfassung des Misthaufens veranlasst. Vergleicht man Foto und Bauzeichnung, so fällt auf, dass das Bild erst nach erfolgter Baumaßnahme entstanden sein kann, denn es zeigt zwischen Haus- und Stalltür ein Klofensterchen, das erst im Sommer 1893 geschaffen wurde. Natürlich haben die Geschwister alle anfallenden Kosten zu tragen, inclusive der erhobenen Verpflegungspauschale währen ihres Siehhausaufenthalts. 1.221 Mark sind binnen 14 Tagen zu zahlen. Es folgen Zwangsvollstreckung und Eintrag der Schuld im „Grund- und Hypothekenbuch“. Noch bis 1901 verzeichnen die Zwickauer Adressbücher die Geschwister Schindler unter der Anschrift „An den Bergkellern 1“. Ein Jahr später sind Haus und Scheune aus dem Stadtbild verschwunden.
Jürgen Schünzel